Es bleiben offene Fragen zum Tod des gefundenen LeichnamsÜberraschender Grabfund vor der Walpurgiskirche

Von Dr. Norbert Hansen und Uwe Schneider

Im Zuge der städtischen Sanierungsarbeiten auf dem vorderen Kirchplatz kam Anfang März 2021 unvermutet eine mächtige Grabplatte zum Vorschein. Sie lag etwa 0,80 Meter unterhalb des heutigen Pflasterniveaus, leicht versetzt zum südlichen Kircheneingang und parallel zur Längsseite des Gebäudes. Die Oberfläche des 1,96 Meter langen, 1,02 Meter breiten und 0,23 Meter dicken Sandsteins trägt nur ein erhaben herausgearbeitetes Kreuz über einem Kreissegment (Bogensockel). Namensnennungen oder Jahresangaben fehlen. Auch Rückseite und Seitenflächen sind ohne Markierungen. Die gesamte Grabplatte ist aufwändig und sorgfältig bearbeitet, ein Zeugnis von hoher Steinmetzkunst. Zur Ikonographie der Darstellung eines Kreuzes über/auf einem Halbkreis sei auf die einschlägige Literatur verwiesen; hier findet sich auch der Begriff des Sühnekreuzes, allerdings im Zusammenhang mit aufrechten Steinkreuzen. Die Bedeutung des Kreisbogens wird mal als Erdkreis, mal als Regenbogen gedeutet.

Heben der Grabplatte

Wider Erwarten besaß die schwere Platte keine gruftartige Steineinfassung als Widerlager, sondern ruhte direkt auf dem etwa 0,30 Meter dicken Aushub der Grabgrube. Diese Schicht war stark mit menschlichen Knochenresten durchsetzt, die als Folge oftmaliger Nachbestattungen auf dem beengten Friedhof anzusehen sind. Eine für das Mittelalter typische Situation. Unter dieser Schicht konnte ein Skelett freigelegt werden, dessen anatomischer Verbund noch größtenteils erhalten war. Es lag genau mittig unter der Grabplatte, so dass ein klarer Bezug zwischen Platte und Bestattung existiert. Da auch Reste von Eisennägeln gefunden wurden, kann auf einen Brettersarg geschlossen werden, der direkt auf den hier anstehenden, recht eben abgearbeiteten Basaltfelsen gelegt worden war.

Situation unter der Grabplatte

Die Bestattung des etwa 1,70 Meter großen Individuums wurde nach christlichem Brauch mit Kopfseite im Westen, Blick nach Osten zur aufgehenden Sonne, durchgeführt. Auffällig war die Lage des linken Arms, der in anatomischem Verbund etwa 10 Zentimeter außerhalb der Normallage angetroffen wurde. Auch beide Beine, ebenfalls in anatomischem Verbund vorgefunden, lagen mit den beiden Oberschenkelhälsen nicht in den Beckenvertiefungen. Das Becken selbst war in der Mitte gebrochen, die rechte Beckenhälfte lag etwas oberhalb des rechten Knies. Eine Störung des   durch Nachbestattungen kann ausgeschlossen werden, da die massive Grabplatte die Bestattung weiträumig abdeckte und damit schützte. Auch die Bestattung einer bereits skelettierten Person wird ausgeschlossen, da bis auf die angesprochenen Abweichungen ein anatomischer Verbund vorliegt.

Freigelegtes Skelett

Von besonderem Interesse war natürlich die Frage nach dem Alter des Grabes beziehungsweise der Bestattung. Wie schon in anderen Fällen der jüngeren Vergangenheit (Holzkohlefunde auf dem Marktplatz und Knochenreste im Beinhauskeller) wurde auch jetzt eine Radiokarbondatierung (C14) an einem Skelettteil im Kurt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie Mannheim veranlasst. Das Ergebnis besagt, dass der Mensch, der 2021 gefunden wurde, mit 95,4 Prozent Wahrscheinlichkeit zwischen 1308 und 1402 verstorben ist. Zum Geschlecht konnte keine Angabe gemacht werden. Aber auf Grund des vollständig erhaltenen Gebisses, das weder Karies noch Zahnstein aufwies, könnte es sich um eine junge, erwachsene Person gehandelt haben. Mit der Zeitangabe verbunden ist auch die Feststellung, die bisher älteste Grabplatte Alsfelds gefunden zu haben.

Unklar bleibt aber die Ursache für die anatomischen Abweichungen der Lage der Gliedmaßen und des zerbrochenen Beckens. Sind diese auf einen schrecklichen Unfall zurückzuführen? Oder noch viel schlimmer, handelt es sich um eine gezielte Verstümmelung durch Vierteilung, wie sie im Mittelalter bei schwersten Verbrechen wie Hochverrat oder Mordversuch gegen die Obrigkeit vorgekommen ist? Bei einer solchen Vierteilung wurden dem Opfer drei der Gliedmaßen vom Leib abgerissen; wegen des fehlenden Widerstands verblieb dann ein Arm oder Bein am Körper. Das hier beschriebene Skelett weist solche Merkmale auf; drei Gliedmaßen sind abgetrennt, der rechte Arm verblieb am Körper.

Gegen eine solche Hypothese spricht allerdings, dass verurteilte Straftäter nicht auf dem geweihten Friedhof bestattet wurden, sondern außerhalb der Stadtmauern landeten. Ungewöhnlich auch das Fehlen jeglicher Beschriftung auf der sorgfältig ausgeführten Grabplatte. Warum sollte die Bestattung anonym bleiben beziehungsweise der Name nicht für das Gedenken der Kirchgänger überliefert werden? Recherchen zur Geschichte der Thüringer Landgrafen lieferten ebenfalls keinen Anhaltspunkt für gewaltsame Todes- oder Mordfälle in der fraglichen Zeit. So bleiben – ähnlich wie beim Fund der Gebäudefundamente auf dem Marktplatz 2020 – interessante Fragen offen.

Grabplatte